Kapitel 1

 

Ich laufe. Ich laufe so schnell ich noch nie gelaufen bin. Immer weiter. Durch den Wald. Lasse alles hinter mir. Ich bin frei.

Ich weiß, dass ich laufe, denn ich kann alles an mir vorbei rauschen sehen, spüre den Matsch, der in mein Gesicht spritzt, doch ich spüre meine Füße nicht. Vielleicht sind sie ja schon taub geworden, vom vielen Laufen. Aber warum spüre ich dann den Rest meines Körpers nicht mehr? Ich will nach unten sehen, um mich zu überzeugen, dass mein Körper noch da ist, aber ich kann mich nicht bewegen. Was für eine Ironie. Ich laufe, laufe schneller als ich je zuvor in meinem Leben gelaufen bin, kann den Wind an meinen Backen vorbei ziehen und meine Haare durchwirbeln spüren, aber ich spüre es nicht. Doch zum ersten Mal fühle ich mich wie ich selbst.

Ich spüre tief in meiner Seele, dass ich hier nicht alleine bin. Etwas beschützt mich vor der grausamen Dunkelheit des Waldes und lässt mich nicht allein. Auf meiner Rechten Seite erkenne ich einen Schatten der durch die Bäume huscht und mir mit seinen Augen folgt.  Ich fühle mich als wäre ich ganz, als ob meine halbe Seele ihre andere Hälfte wiedergefunden hat. Ich kann ihn kurz durch die Bäume hindurch sehen- es ist ein Wolf mit grauem Fell. Er ist wunderschön. Sein Fell glänzt im kühlen Mondlicht. Er ist wild und zart zu gleich- Ich sehe mich. Ich spüre, wie ich stärker werde, mutiger, schneller. Ich laufe Seite an Seite mit meiner anderen Hälfte im hellen Mondlicht und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich frei und geborgen, ganz bei mir selbst.

Doch dann überkommt mich ein Gefühl, das ich viel zu gut kenne. Es löst ein unglaubliches Unbehagen in mir aus- ich werde verfolgt.

Sobald ich diesen Gedanken erfasst habe, sehe ich Angst in den Augen des Wolfes und er ist verschwunden. Er hat mich allein gelassen. Ich habe mich allein gelassen. Völlig allein.

Das einzige, das zurück bleibt, ist ein schwarzer Nebel, der immer weiter auf mich zukommt und mich umzingelt. Ich bin gefangen. Gefangen in meiner eigenen Angst, gefangen in mir selbst. Ich spüre, wie der schwarze Nebel mir die Luft abschnürt, mir den Platz zum Leben nimmt. Ich spüre, wie sich jede einzelne Faser meines unsichtbaren, starken Körpers auflöst, bis nichts mehr da ist. Alles was bleibt ist Leere, eine unglaublich schwarze Leere in meinem Herzen und in meiner einsamen, halben Seele.

 

 

 

 

 

1

Ich habe Angst. Todesangst. Ich schlage die Decke mit einem gewaltigen Schlag von mir weg. Ich bekomme kaum noch Luft, hoffentlich nicht schon wieder ein Asthmaanfall! Ich greife nach meinem Asthmaspray und atme ein und wieder aus. Schnell Taste ich meinen Körper ab: zwei Arme, zwei Füße, zwei Ohren, eine Nase, scheint alles da zu sein. Ich bin patschnass geschwitzt, genauso, wie mein ganzes Bett. Mir wird klar dass ich schon wieder eine hatte- eine Panikatacke. In letzter Zeit habe ich öfters welche. Vielleicht liegt das am Umzug oder vielleicht ist das auch nur Zufall. Ich knipse meine Nachttischlampe an und stampfe ins Bad. Die Uhr zeugt halb zwei an. Gestern um die Uhrzeit hatte ich auch eine Panikatacke und die Nacht davor und davor. Ich schließe leise die Tür hinter mir und lasse mir etwas Wasser in meinen Becher und trinke ihn in großen Zügen leer. Ein Blick in den Spiegel genügt um zu wissen, dass ich morgen wieder einmal mit zwei Tonnen Schminke den Tag verbringen werde, wenn ich nicht aus sehen will wie ein Zombie. Meine braunen Haare sind ziemlich zerzaust und um meine braunen Augen herum haben sich krater ähnliche Augenringe gebildet. Aber nicht nur das, ich habe schon wieder Dreck im Gesicht, wortwörtlich Matsch, genau so wie an meinen Händen und an meinen Füßen. Ich spritze mir Wasser ins Gesicht um den Dreck abzuwaschen, wie ich es gestern schon getan habe. „Das ist doch ein schlechter Scherz.“ Sage ich zu mir selbst, als ich wieder mit sauberem Gesicht in den Spiegel schaue.  Bevor ich in mein Zimmer gehe lausche ich noch einmal ins Treppenhaus hinunter. Mein Zimmer liegt im obersten Stock und ich will hören ob meine Eltern vielleicht aufgewacht sind, doch ich höre nichts als das ohrenbetäubende Schnarchen von Papa, was mich komischerweise ziemlich glücklich macht.  Als ich wieder in meinem Zimmer bin, lege ich mich sofort wieder ins Bett und ziehe mir die Decke bis zum Hals hoch. Als ob sie mich schützen könnte. Lächerlich. Ich knipse das Licht aus und versuche wieder einzuschlafen, doch es klappt nicht. Besser gesagt ich will nicht. Mir ist klar, dass wenn ich meine Augen wieder zu mache, wache ich wieder nass geschwitzt auf und dieses Mal könnte ich auch noch schreien. Das will ich nicht. Meine Eltern könnten diesmal aufwachen, dabei wissen sie nicht, dass ich immer noch Panikatacken habe, oder was auch immer das sein soll, sobald ich einschlafe. Das soll auch so bleiben. Ich möchte nicht schon wieder zu einem Psychiater gehen müssen und ich will nicht dass meine Eltern sich wieder Sorgen machen. Mama konnte erst wieder schlafen, nachdem ich meinen Psychiater angelogen habe und ihm hocherfreut erklärt habe, dass ich keine Albträume mehr habe. Das hat er mir natürlich am Anfang nicht abgekauft, aber nach dem gefühlten tausendsten Mal hat er es mir endlich geglaubt und für geheilt erklärt und ich musste nicht mehr zu ihm kommen. Aber vor allem will ich nicht, dass es wieder jeder weiß. Ich kann endlich normal in die Schule gehen und das will ich mir nicht schon wieder versauen. In meiner alten Schule war ich das arme Mädchen, das oft gefehlt hat, aus ‚medizinischen Gründen‘ natürlich und ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben hat. Dabei wusste jeder, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Aber dieses Jahr wird sich alles ändern. Keine Albträume. Keine Panikatacken. Kein Freak. Einfach nur ein ganz normales Mädchen das in die zehnte Klasse geht. Mehr nicht. Irgendwann gewinnt die Nacht mit ihrer Ruhe doch die Oberhand und ich merke wie ich dahin schwinde und einschlafe.

Ich werde unsanft von meinem bescheuerten Handyklingelton aufgeweckt. Sechs Uhr. Der erste Schultag. Ich stehe auf und schlüpfe unter die Dusche, in der Hoffnung, dass die die Müdigkeit und den Schlafmangel größtenteils wegwäscht, jedoch ohne Erfolg. Ich ziehe mir meine Jeans und einen Pulli an. Die letzten Spuren von unzähligen schlaflosen Nächten versuche ich mit Make-Up zu überschminken, was mir zu meiner  Überraschung relativ gut gelingt. Ich schaue in den Spiegel. Die braunen Haare dezent zu einem Zopf, gebunden, meine braunen Augen sind noch etwas glasig, aber ansonsten sehe ich aus, als hätte ich drei Tage durch geschlafen. Schön wär's.

Ich setze ein Lächeln auf „Du bist normal. Du packst das.“

Ich schnappe mir meinen Rucksack und renne mit meinem aufgesetzten Lächeln und meiner ach so guten Laune nach unten. Ich schnappe mir mein Pausenbrot und gebe Mama noch einen Kuss auf die Backe. Wie immer sitzt sie total verschlafen in ihrem grünen Morgenmantel und ihrer Tasse Kaffee am Frühstückstisch.

 „Hey Mein Schatz“ begrüßt mich Papa und gibt mir einen Kuss auf den Hinterkopf.

„Morgen Papa“ gebe ich ihm zurück. „Fahren wir gleich?“.

„Ja sofort. Schon fertig? Wow. Das ist ja mal ne Überraschung! Du bist fertig.“ entgegnet er mir mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass er mir meine Gute Laune nicht besonders abkauft, aber anders herum ist das genauso. Er sieht müde aus, aber dennoch professionell wie immer, mit deinem grauen Anzug und seinem weisen Hemd. „Mh. Schon gut Papa aber wir müssen dann los.“

Ich schnappe mir meinen Rucksack und ziehe mir meine Jacke an. „Tschau Mama!“ rufe ich noch einmal in die Küche, bevor ich die Tür aufmache und in die Dunkelheit tappe. Draußen ist es kalt und es nieselt ein wenig. Ich ziehe die Kalte Luft in meine Lunge und atme tief ein. Ich spüre wie die kalte Luft meine müden Knochen ein bisschen in Schwung bringt und ich wacher werde. Es  ist hier einfach wunderschön. Der Mond steht noch am Himmel und ein paar Sterne leuchten noch. Es ist schon fast Dezember, aber immer noch nicht besonders kalt. „Auf geht’s.“ reist Papa aus meinen Gedanken und setzt sich ins Auto.

Wortlos, aber mit einem Lächeln auf den Lippen folge ich ihm. Ich liebe es, wenn Papa mich morgens in die Schule fährt. Papa fährt einen alten Ford Mustang, einen knallroten. Immer wenn wir damit an meiner alten Schule aufgetaucht sind, haben sich alle nach uns umgedreht und Papa und ich haben uns immer darüber lustig gemacht, dass sie so offensichtlich über uns gelästert haben. Aber nicht hier. Hier will ich das nicht. Hier will ich nicht, dass sich irgendjemand über mich das Maul zerreißt und vor allem nicht über meine Eltern. Nicht über meinen Dad. Mama macht das nicht so viel aus, hat es noch nie und wird es auch nicht. Mama braucht das nicht. Sie zieht sich in ihr Arbeitszimmer zurück und schreibt ihr Bücher. „Damit kann man sich wunderschön über andere Menschen lustig machen und sich über sie aufregen, ohne dass sie es merken“, sagt sie immer. Aber das wirklich gute daran ist, dass sie niemanden sehen muss, wenn sie nicht will Sogar Papa und ich haben in ihrem Arbeitszimmer striktes Betreten-Verbot. Sie ist total gegen Gewalt und auch gegen irgendwas in die Richtung. Ganz anders als Papa. Wenn Mama und Papa streiten, geht meine Mama einfach in ihr Arbeitszimmer, bis sich Papa wieder beruhigt hat. Als wir noch in Köln gewohnt haben, ist Papa nicht einem einzigen Streit mit dem Direktor oder den anderen Eltern aus dem Weg gegangen, wenn sie mal wieder vorgeschlagen haben, ich sollte doch auf eine andere Schule gehen. Vielleicht in eine, in der mir geholfen werden kann. Erlässt sich ungerne etwas sagen und genau das liebe ich so an ihm. Das habe ich eindeutig von ihm geerbt. Aber am Ende haben sie doch gewonnen. Nicht, weil Papa das zugelassen hätte, ihm wurde nur gekündigt und hier hat er ein ziemlich gutes Angebot bekommen. In einer großen Anwaltskanzlei. Das wollte Papa schon immer machen, aber in Köln hat er nie die richtige Stelle gefunden, hier schon. Also sind wir hier her gezogen.

“Kannst du mich bitte eine Straße früher raus lassen?“ versuche ich ihn so beiläufig wie nur möglich zu fragen, aber es klappt nicht.

„Wieso denn?“ antwortet er mit ganz überraschtem Gesicht und lächelt dabei. „Bin ich dir etwa peinlich?“

„Nein, nein“ ich kann es nicht verhindern zu lächeln. Mama würde so etwas nie fragen, sie würde lachen und es einfach tun, aber Papa braucht immer eine Erklärung, auch wenn er es nicht ernst und auch nicht böse meint, er ist eben genau so neugierig wie ich. Er sieht nichts als selbstverständlich und will immer alles wissen, wenn er es nicht schon längst weis.

 „Ich will nur nicht, dass sie alle wieder so komisch gucken. Ich will nicht als Schickimicki- Tante abgestempelt werden, wie in meiner alten Schule.“

 Natürlich war das gelogen. Ich war an meiner alten Schule weder eine Tussi sonst noch was in die Richtung, ich will nicht, dass ich von meine Daddy am ersten Schultag in die Schule gefahren werden muss. Bestimmt kommen hier alle mit dem Rad in die Schule oder zu Fuß, typisch Vorstadt eben. Papa nickt nur und schmunzelt vor sich hin, aber ansonsten sagt er nichts mehr dazu. Ich hasse das Gefühl, wenn ich weiß, dass Papa weiß, dass ich gelogen habe. Ihm kann man nichts vormachen. Unmöglich.

„Ok. Na dann bis heute Abend“

Er  verabschiedet sich und gibt mir noch einen Kuss auf die Backe. Lächelnd steige ich aus dem Wagen und winkte ihm noch kurz hinterher, bis ich mir sicher bin, dass er mich nicht mehr sieht. Ich laufe den Gehweg entlang, der nur von einer kleinen Straßenlaterne beleuchtet wird. Hinter der nächsten Ecke muss eigentlich die Schule sein. Irgendwo da. Oder auch nicht. Wie immer habe ich einfach keinen Plan und ich ärgere mich schon wieder darüber. Ich darf auf keinen Fall am ersten Tag zu spät kommen, das wäre echt megamäßig peinlich. Zum Glück ist die Schule direkt hinter der nächsten Straße und ich bin froh weder zu spät noch durchnässt dort anzukommen. Ich hätte mir wirklich keine Sorgen machen müssen, wenn Papa mich bis vor die Schule gefahren hätte. Jeder meiner Mitschüler wird von einem Auto gebracht. Ok das war untertreiben. Nicht von irgendeinem Auto, sondern von einem Bentley oder Bugatti mit eigenem Chauffeur. Und schon hat es wieder nicht geklappt. Natürlich falle ich auf, ich bin die Einzige, die zu Fuß kommt. Als ich das Schulgebäude betrete, weiß ich sofort, dass mich jeder anstarrt. Dies mal aber nicht, weil ich daran schuld bin. Jeder hier trägt eine Schulkleidung, abgesehen von mir. Und schon wieder steigt in mir diese  verdammte Wut hoch. Ich habe es nicht einmal die erste Stunde geschafft, ohne, dass mich sofort alle anstarren. Ich meine mich hätte auch niemand darüber informieren können, dass hier einfach alle nur fette Geldsäcke sind, mit eigenem Chauffeur und natürlich trägt man auf einer Privatschule eine Schuluniform. Als erstes Steuere ich den Weg zum Sekretariat an, um meinen Stundenplan abzuholen. Doch wo ist das verdammte Sekretariat nochmal? Ich war Anfang der Ferien doch schon mal im Sekretariat um mich anzumelden. Eigentlich habe ich ja keinen schlechten Orientierungssinn, außer ich bin in mitten in einem Schloss gefangen und hab das Gefühl von allen angestarrt zu werden. Ich erschrecke, als mich auf einmal ein Mädchen anrempelt und ihr gesamte Tasche auf dem Boden verteilt. Sofort drehen sich alle zu uns um und fangen an zu kichern und zu tuscheln.

„Oh das tut mir leid. Ich hab dich gar nicht gesehen.“ Entschuldigt sie sich bei mir und lächelt mich kurz an, bevor sie sich bückt und anfängt ihre Sachen wieder einzusammeln.

„Das macht doch nichts.“ Antworte ich ihr und helfe ihr beim einsammeln ihrer Hefte und Bücher. „Ich bin Ruby.“

„Oh ja, Entschuldigung. Ich bin Alex. Du bist neu hier oder?“ sagt sie und streckt mir ihre Hand entgegen.

 Ich schüttle sie kurz und gebe ihr dann die restlichen Bücher. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie ganz anders aussieht als die anderen Schüler hier. Klar, sie hat die gleiche Schuluniform an, aber sie trägt weder schminke noch High Heels oder sonst irgendwas der artiges. Sie sieht einfach normal aus. Sie hat schwarz gelockte Haare die ihr gerade bis über die Schultern fallen, blaue Augen und trägt ziemlich abgewetzte schwarze Sneakers, solche, wie ich auch zu Hause habe.

 „Kannst du mir vielleicht sagen, wo das Sekretariat? Ich finde es einfach nicht…“ frage ich sie, nachdem sie wieder alle Sachen in ihrer braunen Schultasche verstaut hat.

„Ja klar, ich kann dich hinbringen, wenn du willst.“ erklärt sie mir „Hier kann man sich ziemlich schnell verlaufen. Mir ist das schon einmal passiert.“

Ich muss ein lachen, als sie mir das erzählt.

„Ich geh in die Zehnte. Also Zehn c um genau zu sein. Und du?“ frägt sie weiter.

Wir laufen eine Treppe hoch und biegen dann links ab. Vor uns erstreckt sich ein langer Gang in dem sich nicht sehr viele Schüler aufhalten.

„Ich geh auch in die zehnte, weiß aber noch nicht in welche Klasse“ gebe ich ihr als Antwort.

Sie nickt und deutet mit dem Finger auf einer der Türen, neben der auf einem kleinen weißen Schild Sekretariat steht

„Da ist es. Vielleicht sehen wir uns ja nochmal.“

 Sie verabschiedet sich und dann ist sie auch schon verschwunden ohne dass ich ihr auf Wiedersehen sagen konnte. Ich klopfe einmal kurz an die Tür.

„Ja, herein“ entgegnet mir eine freundliche Stimme und ich mache die Tür auf.

Der Raum ist nicht besonders groß, besitzt aber zwei Fenster durch die man auf den Pausenhof sehen kann. In der Mitte steht ein kleiner Schreibtisch der von Regalen nur umringt zu sein scheint. An dem kleinen Schreibtisch sitzt eine etwas dickere Frau mit schwarzen kurzen Haaren. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einer hochgehaltenen Hand bedeutet sie mir kurz zu warten, anscheinend sucht sie etwas auf ihrem Computer. Als sie damit fertig ist, schaut sie zu mir hoch und setzt ihre rote Brille auf.

„Du musst Ruby sein, Ruby Müller. Ich gebe dir gleich deinen Stundenplan und deine Bücher, warte bitte kurz“.

 Ich nicke ihr mit einem Lächeln zu, da ich im Moment kein Wort heraus bekomme und warte bis sie wieder zurückkommt. Der Raum ist ein einem leichten Gelb gestrichen und ein Paar Bilder hängen an der Wand, hauptsächlich gemalte Tiere. Auf dem Schreibtisch steht ein kleines Foto von einem kleinen Mädchen mit schwarzen Haaren, mir kommt das Gesicht bekannt vor, aber das Mädchen ist gerade einmal ungefähr acht Jahre alt und ich kenne kein achtjähriges Mädchen mit schwarzen Haaren. „Hier sind die Bücher und dein Stundenplan“ erklärt mir die rundlichere Frau, während sie die Bücher auf den Tisch stellt und mir den Stundenplan in die Hand gibt. Heute habe ich zu erst Mathe. Super.

„Brauchst du sonst noch etwas“

„Ehm. Ja, haben sie vielleicht so etwas wie ein Plan von der Schule in dem die Räume drauf sind? Sonst verlauf ich mich noch.“ Antworte ich ihr mit einem entschuldigenden Lächeln.

Sie nickt und verschwindet wieder im Nebenzimmer. Ich nehme die Bücher und verstaue sie in meinem Rucksack. Den Stundenplan falte ich zusammen und stopfe ihn in meine Jackentasche. Als die Frau wieder zurückkommt, reicht sie mir einen Zettel mit dem Grundriss des Gebäudes auf dem die einzelnen Räume markiert sind.

„Ach ja und die Schuluniform, da müsstest du mir gerade deine Größe sagen und morgen nach Unterrichtsschluss nochmal vorbei kommen.“

„Ach so ja. Also ich habe S. Muss ich dafür noch etwas bezahlen oder so?“ frage ich sie.

„Nein. Das übernimmt die Schule. Wenn dir die Schulkleidung zu klein wird oder du irgendwas verlierst musst du einfach zu mir kommen und dann bekommst du einen Ersatz“ erklärt sie mir mit einer Freude die mir ein wenig übertrieben vorkommt. Ich mein, es ist nur eine Schuluniform.

„Ok vielen Dank und noch einen schönen Tag“ sage ich ihr, bevor ich mich umdrehe und aus dem Zimmer gehe.

Hinter mir höre ich noch ein „Auf Wiedersehen“ von der Sekretärin bevor ich die Tür schließe.

Ich klappe meinen Stundenplan auf, um zu sehen in welchem Raum ich als Unterricht habe. Raum 108. Ich muss erst gar nicht auf dem anderen Plan schauen, um zu wissen, wo ich Unterricht hab, denn der Raum befindet sich schräg gegenüber vom Sekretariat. Ich packe den Zettel wieder zurück in die Tasche und atme kurz tief durch. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so nervös sein würde. Als ich ins Klassenzimmer hinein gehe, suche ich nach einem freien Platz. Zu meinem Glück entdecke ich Alex die in der Letzten Reihe allein am Fenster sitzt. Ich bin ziemlich glücklich darüber, dass ich in der gleichen Klasse wie Alex bin, dann komm ich mir vielleicht nicht ganz so verloren und einsam in diesem Sanatorium von Schule vor. Im selben Moment sieht Alex von ihrem Handy auf und winkte mich zu sich. Ich gehe möglichst schnell auf sie zu, um nicht auch sofort von allen anderen bemerkt zu werden, jedoch ist das fast unmöglich mit meinem roten Pulli zwischen den Blau- weißen Uniformen, wie mir genau in diesem Moment klar wird.

„Du bist ja fast kaum zu übersehen!“ sagte Alex sichtlich erfreut, als ich neben ihr Platz genommen habe.

„ Das war alles geplant“ erwiderte ich ihr mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ich bin so froh, dass ich nicht alleine Sitzen muss, vor allem dann nicht, wenn ich nicht zu übersehen bin. Die ersten beiden Stunden gehen ziemlich schnell rum und ich fange an Alex richtig zu mögen. Sie ist zwar unglaublich intelligent aber nicht aufgeblasen und macht sich auch ab und zu über die Lehrerin lustig. Die Lehrerin weiß das anscheinend, dann sie sieht Alex immer genau in dem Moment mit einem ziemlich tödliche Blick an, wenn ich wieder einmal über eine ihrer Bemerkungen lachen muss. Ich war zwar nie gerade die dümmste und in Mathe war ich noch nie besonders schlecht gewesen, aber neben Alex komme ich mir ein wenig hilflos vor.

„Sie hält sich für ziemlich schlau, aber bis jetzt hat sie noch keine Frage gefunden die ich ihr nicht beantworten konnte. Das ärgert sie ziemlich und immer wenn sie sich ärgert fängt ihr Doppelkinn an zu beben“ erklärt sie mir zwischen einem unserer Lachkrämpfe.

Die anderen Schüler scheinen Mathe nicht besonders lustig zu finden, da Frau Bauer ihren Frust an den anderen Schülern auslässt. Nach Mathe haben wir Chemie. Darauf habe ich mich die gesamte Zeit gefreut. Chemie war schon immer mein absolutes Lieblingsfach. Ich bin gespannt, ob Alex in Chemie genauso gut ist, wie in Mathe, doch das ist eindeutig nicht der Fall. Schon vor Chemie erklärt mir Alex, dass sie Chemie nicht mag. Eine gute Sache hatte das ganze ja, es ist ziemlich lustig. Der Rest des Tages verläuft ziemlich langweilig und normal. Die Sechste Stunde war gerade vorbei und wir hatten endlich Schule aus. Ich war schon ganz happy, weil ich in nur wenigen Minuten endlich zu Hause sein würde und mich hinlegen konnte, den ganzen Tag über musste ich mich ziemlich angestrengt konzentrieren, um nicht einzuschlafen. Nach der langen Nacht war das ja auch kein Wunder. Als ich aus dem Klassenzimmer rausgehe, warte ich noch auf Alex, vielleicht muss sie ja in die gleiche Richtung wie ich. Und dann werde ich schon wieder umgerannt. Zum zweiten Mal an einem Tag.

Mit einem Seufzen drehe ich mich um „Sorry. Bin heute wohl nicht besonders Geschickt…“

Der Junge vor mir, hat sich hingekniet um seine Tasche wieder auf zu heben und als er wieder aufsteht und mich anschaut, bleibt mir fast die Spucke weg. Wow. Er hat seine schwarzen Haare ein wenig nach oben gestylt und wunderschöne grüne Augen. Er trägt eine zerrissene Jeans und eine schwarze Lederjacke.  

„Oh Hi. Ja das macht nichts du bist ja nicht dran schuld.“ Entschuldigt er sich mit einem Lächeln.

Eine Weile schau ich ihn nur verdattert an, weil ich einfach nicht wegschauen kann und er erwidert meinen Blick mit einem Lächeln. Einem ziemlich süßen Lächeln. Oh Mann… Ich hasse das. Bestimmt sehe ich wieder total bescheuert aus und starre wie ein Auto. Das ist ja auch kein Wunder, bei dem Anblick.

„Hey Ruby, kommst du?“ unterbricht mich Alex die hinter mir aufgetaucht ist.

„Was? Ja. Ja ich komm.“ Mit einem Ruck drehe ich mich um, sonst hätte ich mich nicht von diesen schönen Augen losreisen können und falle fast hin.

 Alex krümmt sich fast vor Lachen, als sie das sieht. Wie kann man nur so unverschämt gut aussehen? Verdammt.

 „Hey Loic, Ralf holt uns nachher, also trödle nicht schon wieder!“ Höre ich Alex.

„Was? Du kennst ihn?“ frage ich sie leise, damit er es möglichst nicht hört.

„Ja klar“ antwortet sie mir „Er ist mein Bruder.“

Ich starre sie ein wenig verdattert an. Klar, die Ähnlichkeit war kaum zu übersehen. Als ich mich nochmal umdrehe um mich zu verabschieden ist Lucas schon weg.

„Alles klar bei dir?“ Fragt sie mich und grinst.

Ich antworte ihr mit einem nicken und muss auf einmal auch anfangen zu lachen. Während wir nach draußen laufen verpasse ich ihr einen Stoß in die Rippen und wir müssen schon wieder lachen. Als wir vor dem Schulhof stehen steigt Alex in einen schwarzen Bentley ein, in dem auch ihr Bruder kurz zuvor eingestiegen sein muss oder er kommt noch, vielleicht sollte ich warten und mich nochmal bei ihm entschuldigen oder so. Aber ich beschließe doch lieber zu gehen. Dann setzen meine Beine auch schon zum Laufen an. Die einzigen Gedanken, die ich auf dem gesamten Heimweg habe Kreisen um mein Bett und um Loic. Um genau zu sein an seine Augen. Irgendetwas an ihnen war so anders, als ob sie etwas vor mir verbergen würden. Als ich die Tür aufschließe bin ich schon kurz davor, auf der Stelle ein zu schlafen. Doch da habe ich die Rechnung ohne Mama gemacht. Kaum bin ich im Haus, höre ich schon, wie Mama die Treppe nach unten gelaufen kommt. Bevor sie ein Wort sagen kann, nutze ich meine Chance „Ich bin müde. Ich erzähl die später alles in Einzelheiten, aber jetzt muss ich erst einmal meinem Bett alles Aufregende erzählen. Hab dich lieb.“ Und schon bin ich an ihr vorbei gerannt und hab die Tür hinter mir zu gemacht. Da steht es. Endlich, mein Bett. Ich schmeiße meinen Rucksack in die Ecke, zieh meinen     Pulli und meine Jeans aus und schlüpfe in Unterwäsche unter die Decke. Und schon werde ich vom Schlaf erfasst. Ein viel zu tiefer Schlaf, aus dem ich nicht mehr so schnell auf wache. Erst wenn es wieder anfängt.

Ich wache auf, doch nicht, weil ich wieder einmal einen schlechten Traum habe, sondern, weil mein Handy einfach nicht mehr auf hört zu klingeln.

„Ja Hallo?“ flüstere ich verschlafen.

 „Hey Ruby. Na Alles klar? Hast du mich schon vergessen? Wie lange bist du weg? Zwei Wochen und nicht einmal hast du dich bei uns gemeldet. Müssen wir uns sorgen machen?“ dröhnt es aus dem Lautsprecher.

„Nein, alles klar hier drüben“ gebe ich als Antwort, während sich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen abzeichnet „Und bei dir? Vermisst du mich schon?“

„Jaja, träum' weiter.“

Es ist Steve, mein allerbester und leider auch mein einziger Freund. Ich kenne ihn schon seit ich denken kann. Er war derjenige mit dem ich im Sandkasten gespielt habe und der bei allem bei gestanden ist. Schon immer. Mein Fels in der Brandung. Außerdem ist er der einzige, der weiß, dass ich nachts fast nicht schlafe. Er weiß einfach alles über mich, aber natürlich wies ich auch alles über ihn. Ich war an seiner Seite, als er seinen Eltern erklärt hat, dass er schwul ist. Danach hat er zwei Wochen bei mir geschlafen, weil er seine Eltern nicht mehr anschauen konnte. Er ist so zu sagen, der große Bruder, den ich nie hatte. Beim dem Gedanken wird mir ganz warm ums Herz und mir wird klar, wie sehr ich ihn vermisse.

„Alles in Ordnung? Du sagst ja gar nichts mehr. Ist es schon wieder passiert?“ frägt er mich ganz besorgt.

„Ja, du weißt doch, dass ich sie jede Nacht habe, aber das ist es nicht. Ich vermisse dich nur so schrecklich.“ antworte ich ihm und tue so, als ob ich gerade sechs Jahre alt wäre.

 „Oh meine Hübsche“ ich höre förmlich, wie sich ein Lächeln auf seinen Gesicht ausbreitet.

Natürlich weiß er, dass ich ihn wirklich vermisse und nicht nur Spaß mache.

„Los erzähl, wie ist die neue Schule so? Und die Jungs? Die Lehrer? Die Schuluniform?“ lacht er ins Telefon hinein.

 „Die Schuluniformen würden dir gefallen, da bin ich mir sicher.“ Ich versuche erst gar nicht meine Ironie zu verbergen

„Und die Lehrer sind ganz ok. Und ja na gut, ich erzähl es dir so oder so irgendwann. Da war dieser Typ, Loic, er hat mich umgerannt. Aber diese Augen. Du hättest dich sofort in ihn verknallt, wenn du ihn gesehen hättest. Er ist der Bruder von Alex. Wärst du nicht auf der anderen Uferseite gestrandet, dann würde ich dich sofort mit ihr verkuppeln“ gebe ich mit einem Lachen zu.

„Mh. Ich muss dich unbedingt besuchen kommen und dann musst du ihn mir vorstellen, ja? Was ist denn Loic für ein Name?!“ frägt er weiter. „Und wer ist Alex?“

„Ich sitze neben ihr. Sie ist wirklich in Ordnung, du würdest mich garantiert für sie stehen lassen“

„Ich dich stehen lassen? Niemals!“ gibt er zu und wir müssen beide lachen.

Mir wird bewusst, wie einsam ich mich hier in meinem Zimmer zwischen den ganzen Umzugskartons fühle. Ich erzähle ihm noch wie die Schule so ist und frage ich nach seinem ersten Schultag. Danach sagt er, dass er noch Hausaufgaben machen muss und mir später bestimmt noch einmal schreibt.

Ich verabschiede mich mit einem „Hab dich lieb“ und schmeiße mein Handy wieder zurück in meine Tasche. Ich werfe meinen Kopf zurück auf mein Kissen und schaue aus dem Fenster.

 Mein Bett steht hinten in einer kleinen Nische, die fast nur aus Fenstern besteht. Gegenüber an der anderen Wand steht mein Kleiderschrank und an der daran liegenden Wand steht mein Schreibtisch, übersäht mit Umzugskartons. Ich höre meinen Magen knurren, habe jedoch keine Lust auf zu stehen und nach unten zu laufen. Ich starre lieber weiter aus dem Fenster und betrachte den bewölkten Himmel.  Ich verbringe den ganzen Mittag damit, zu warten, bis die Sonne wieder durch den grauen Wolkenschleier bricht und mir ein wenig Wärme schenkt, doch das passiert nicht. Irgendwann schaffe ich es doch irgendwie auf zu stehen und mich an die Hausaufgaben zu setzen. Doch gibt es da leider nur ein Problem: der Berg von Umzugskisten auf meinem Schreibtisch. Natürlich könnte ich die Kisten alle auspacken und einsortieren, aber dazu fehlt mir gerade die Lust, also staple ich die ganzen Kisten um meinen Schreibtisch herum und setze mich an den Schreibtisch. Es dämmert mittlerweile schon und wird langsam dunkler. Nach einiger Zeit fühle ich mich unwohl zwischen den ganzen Kisten. Irgendwie umzingelt und gefangen. Natürlich bin ich nicht ganz umzingelt, doch rechts und links scheinen die Kartons sich bis in das Unendliche zu türmen und vor mir ist die weise Wand. Ich merke, wie sich meine Brust zusammenkrampft und ich schlecht Luft bekomme. Ich habe keinen Platz zum Atmen. Ich muss hier raus, doch ich bin wie gelähmt, als ob ich keinen Körper hätte. Es fühlt sich wie in einem meiner Träume an. Träume ich jetzt etwa schon, wenn ich wach bin?

„Du bildest die das nur ein.“ Versuche ich mir die ganze Zeit einzureden. „Jetzt beweg deinen kleinen Arsch von dem Stuhl und geh raus! Sofort!“ doch es funktioniert nicht.

 Ich spüre, wie ich kurz davor bin zu schreien, kurz davor, eine Panikatacke zu bekommen. Oder besser gesagt ich stecke mittendrin. Ich darf nicht schreien, sonst bekommen es meine Eltern mit, oder zumindest Mama. Nein, das kann ich nicht machen, aber was dann? Bewegen kann ich mich ja auch nicht.

„Ganz ruhig atmen. Die passiert nichts, wenn du dir bewusst machst, dass das nicht real ist. Du bist nicht gefangen. Niemand hält dich fest.“

Das hat Dr. Howard immer gesagt, doch das hört sich in der Theorie irgendwie leichter an, als in der Praxis. Meine Gedanken rasen und ich schnappe nach Luft, aber ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu atmen zu haben. Sie ist einfach weg, nicht mehr da.

Ich schieße hoch und sauge die gesamte Luft ein und wieder aus. Mein Nacken ist nassgeschwitzt wie der Rest meines Körpers auch. Es war ein Traum- nur ein verdammter Traum. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Draußen ist es mittlerweile stockdunkel und eins der drei Fenster steht offen. Hat Mama das geöffnet? Hab ich geschrien? Nein. Vielleicht habe ich es auch aufgemacht und weiß es jetzt nur nicht mehr. Zumindest habe ich nicht geschrien, sonst wäre Mama schon längst in meinem Zimmer, mit ihrem sorgenvollen Gesicht, mit dem sie zwanzig Jahre älter aussieht und mit einem Schlag doppelt so viele Falten bekommt, als sonst. Aber ich bin allein. Nur der Wind weht mir um die Ohren und bringt mich zum frösteln. Ich lebe noch und atme.

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